Mittwoch, 29. Oktober 2014

Eiszeit

I

Aufs Neue bleckt er seine weißen Zähne,
beißt in die Nasen, Ohren, in die Wangen,
als prüfe er das Kneifen alter Zangen,
die zu lang rosteten in der Domäne.

Er schneidet wahllos mangels eitler Pläne;
die letzten Früchte sind dahingegangen.
Dort, wo die reifen Äpfel herbstgehangen,
vereinsamt eine letzte Goldparmäne.

Geglättet ruht das alte Land, kristallgebadet,
erscheint als gleißende Apotheose,
darin der Lärm des Jahreslaufs verhallt.

Aus Sternen grüßt der Künstler, gottbegnadet,
malt an die gelben Bauernfenster Ros' um Rose
und lächelt gleichsam einer Lichtgestalt.

II

Er lächelt gleichsam einer Lichtgestalt,
im Kerzenschein, der unter Dächern, Zinnen,
Erinnerungen weckt beim Sichbesinnen.
Sein Leuchten wärmt sie ohne Vorbehalt.

Die Speicher sind gefüllt und wohlbestallt.
Zum nahen Jahresende hin beginnen
sich Märchen und Geschichten zu entspinnen,
berichten, was in frühen Zeiten magisch galt.

An diesen Tagen schwebt ein Apfelduft
und der von Sternanis, durch Zimmerluft,
backt Mutter emsig die Silvesterkrapfen.

Versilbert und vergoldet strahlen Zapfen
am Tannenbaum und Glockenläuten schallt.
Mit Eis und Harsch und Frösten ringt der Wald

III

Mit Eis und Harsch und Frösten ringt der Wald.
Wer keinen Mangel hat, verlässt nicht seine Bleibe,
ihm rückt der Frost sonst schonungslos zu Leibe.
Solch Tage taugen nur begrenzt zum Aufenthalt

im Freien, da der Nordmann Fäuste ballt.
Man sitzt daheim gemütlich bei dem Weibe,
betrachtet Eiskunst auf der Flachbildscheibe.
Dieweil verblasst am Marktplatz der Basalt.

Droht Schnupfen, schluckt man brav und auf Rezept.
Bei Husten gilt entsprechendes Konzept
und weicher Flaum bewacht die Quarantäne.

Nach langen Stunden schleppt man sich zu Bette
als trüge man an einer Gliederkette.
Der See vermisst seit Wochen Schwan und Kähne.

IV

Der See vermisst seit Wochen Schwan und Kähne.
Sein Schilf harrt regungslos vereist im Grund,
schabt sich die Knöchel an den Rändern wund.
Ihm fehlen Sonnenwärme und die Schwäne.

Bei jedem Windstoß flattert eine Strähne
ihm übers wilde Seegesicht. Dem kalten Bund
begegnet er hier mit Gedächtnisschwund,
verdrängt einstweilen Kahn und Kapitäne.

Im klammen Kleid aus weißen Wolkenpelzen
beginnt sein seelig Winterherz zu schmelzen
und rührt das Schilf zu einer warmen Träne.

Doch niemand ahnt das Zwiegespräch der beiden,
vermeint, es rausche Schilfrohr bei den Weiden.
Versiegt sind all'samt Brunnen, die Fontäne.

V

Versiegt sind alle Brunnen; die Fontäne,
die sommers in den goldnen Himmel sprang,
verbirgt zur Stunde Frohgemut und Klang.
Ach, wie ich mich nach ihrem Plätschern sehne!

Der Ort versinkt in Schweigen. Selbst die Hähne
von hinterm Zaun, nah meiner Gartenbank,
bekrähen nicht wie sonst den Sonnaufgang.
Monotonie beherrscht die stumme Szene.

Die Eiche auf dem Dorfplatz greift nach Sternen.
Was sie bislang nicht kannte, muss sie lernen:
Jegliches Kinderlachen ist verhallt.

Und auch die Dächer scheinen sich zu ducken
in Nebeln, die ihr klares Bild verschlucken.
Der Marktplatz wirkt verlassen, grau und alt.

VI

Der Marktplatz wirkt verlassen, grau und alt.
Im Eck dampft es aus einem Lumpenhaufen.
„Der kricht meen Jeld bestümmt nich zum Vasaufen!“
Ein Obdachloser liegt im Darminhalt.

Kaum einen kümmert dieser Sachverhalt.
Die Menschen hasten, eilen, und sie laufen
vorbei an diesem Konterfei zum Kaufen ...
Ein Nachbar hat die Türe zugeknallt.

Mit leeren Blicken starrt der Habenichts
auf eine Dame, die wohl angesichts
seiner Erscheinung angewidert tat.

Und seine frostgeschwächte Hand, sie hat
sich hoffnungslos am Schlafsack festgekrallt.
Aus Essen steigen Dünste dergestalt.

VII

Aus Essen steigen Dünste, dergestalt
die Köchin wendet fette Gänsebrüste.
In Topf und Pfannen brutzeln Fleischeslüste
für den Familienzusammenhalt.

Vorm Fenster tobt indes Naturgewalt,
ein Zimmer weiter - andere Gelüste:
Ein Alter, der ein junges Mädchen küsste ...
und dieses wagt nicht zu gebieten „Halt!“

Erschlafft hockt hinterher an einer Tafel,
die urige Mischpoke mit Geschwafel,
ein Sammelsurium der gleichen Gene.

Am Markt: Das Bündel aus Gestank und Fieber
ist nicht noch einmal aufgetaut, hinüber
türmt der Polarwind seine Silbermähne.

VIII

Türmt der Polarwind seine Silbermähne,
wird frömmelnd  die Gewissenslast bereinigt
und angeklagt, was in der Fremde peinigt.
Man stützt sich eisern auf die Sessellehne,

dehnt seinen Rücken und streckt eine Sehne.
Denn im Iran wird wieder mal gesteinigt!
Man kämpft, in Solidarität vereinigt.
Der Finger zeigt auf fremde Souveräne.

Was kümmert es die Potentaten aber?
Dies nächstenliebende und Scheingelaber
erreicht doch ohnehin nicht die Diktator-Ohren!

Das geht alsbald vorüber, wissen sie,
ist nur so eine westliche Manie,
wo Sommerlinden dereinst Liebe schworen.

IX

Wo Sommerlinden dereinst Liebe schworen,
gähnt zwischen Kraut und Stümpfen hohler Raum,
fällt Licht bis auf den Boden, blieb kein Baum.
Ein Stümper hatte sie zum Fall erkoren.

Verebbt ist das Getöse der Motoren,
geschnitten und zerteilt der Sommertraum.
Die Liebe hatte keine Chance, denn kaum
erwacht, schon köpften sie die Investoren.

Versprochen wurden Arbeit, Lohn und Brot -
die Linden rauschen nicht mehr, sie sind tot.
Gefühlsbetont bläht sich ein Portmonee.

Die Liebe? Zur Benutzung abgeflacht.
In Anbetracht der geilen Übermacht
versprach kein Glück der immergrüne Klee.

X

Versprach nicht Glück der immergrüne Klee?
Und sprach er nicht von ihm, dem reinen,
dem Streben, wie man glaubt, sich zu vereinen!?
Bedeuten Liebe, Linde, Klee nur Varieté?

Und führte nicht die weisende Allee
vorbei am See, an malerischen Hainen,
ließ Richtung und ein wertes Ziel erscheinen?
Zer$tört wars jäh.

Das Ende schlich heran, war zu erahnen
aus alten Weisen, die daran gemahnen.
Es stand von Anfang an schon vor den Toren.

Ist dieses Bild der Linden und sowohl
als auch vom Klee nur Eitelkeits – Idol?
Vor Tagesanbruch sind sie eingefroren.

XI

Vor Tagesanbruch sind sie eingefroren,
zu abgelenkt von aufgeblähten Lippen,
die geil-lasziv an Eis und Kaffee nippen,
von Baumarkt, Mauerbau, geplatzten Rohren …

von Sicherheit im Straßenbau per Reflektoren,
von streikenden Idioten, Kinderwippen,
denn ihre Kindheitsmuster, lass mich tippen,
sind nicht zur letzten Gänze ausgegoren.

Der Mensch besteht zum Großteil aus Neurosen,
ist ein Gewirr von Eitelkeitsmimosen
und nebenbei nur Gottes Schnapsidee.

Ohn' heilig' Schein! Ohn' eitel Lindenwald
wird sein Theater demaskiert, alsbald
bedeckt von einem Überzug aus Schnee!

XII

Bedeckt von einem Überzug aus Schnee
vergeht die Pracht, verschwinden Rang und Namen.
Darunter drängen Keimlinge aus Samen.
Die Stille - ist sie mehr denn ein „Klischee“?

Die Tage, die vergingen, sind passé,
mitsamt der Fröhlichkeit, mit der sie kamen.
Nie wieder glückt, sie gleichsam nachzuahmen.
Die Zeit zieht konsequent ihr Resümee.

In der Vergangenheit ruht das, was war.
Der letzte Zug kommt unabänderbar,
macht Halt im Schneesturm auf dem Abstellgleis.

Weit überm Marktplatz schweben Cherubine.
Direkt darunter – so, als wär's Routine -
verschwindet auch das rettende Geleis.

XIII

Verschwindet auch das rettende Geleis,
zeigt Klarheit sich im detaillierten Wissen.
Zum Weitergehen reicht kein Ruhekissen.
Man zahlt für Fortschritt keinen Sonderpreis!

Er kostet Kraft und jede Menge Schweiß,
lässt auch der Gegenwind das Ziel vermissen.
Und wird das Neue medial verrissen,
begehrt nur Altes auf im Querverweis!

Die Zeiten ändern sich wie alle Jahre.
Man wird geboren, wirkt bis hin zur Bahre.
Auf nichts hat niemand den Besitznachweis.

Epochen folgen zahlreichen Äonen.
Grad frostet man die Menschen ein zum Klonen.
Die Welt um mich herum - erstarrt zu Eis.

XIV

Die Welt um mich herum - erstarrt zu Eis.
Im Hintergrund - beachtliche Momente.
Die Periode nähert sich dem Ende
und jedes Jahr zieht regulär den Kreis.

Letztendlich führt der Zyklus den Beweis:
Scheint auch das Ende anfangs fern und offen,
letztendlich hilft kein Beten und kein Hoffen.
Der Abgesang steht fest, braucht kein Geheiß.

Doch jedem Abschied folgt ein Wiedersehen;
die Jahre kommen nämlich und vergehen.
Für Wochen nach dem Wechsel gibt’s schon Pläne.

Zuvor jedoch muss ihn der Mensch bezwingen
und Nächstenliebe, Gott herrje, besingen.
Aufs Neue bleckt er seine weißen Zähne.

XV

Aufs Neue bleckt er seine weißen Zähne;
er lächelt gleichsam einer Lichtgestalt.
Mit Eis und Harsch und Frösten ringt der Wald.
Der See vermisst seit Wochen Schwan und Kähne.

Versiegt sind alle Brunnen. Die Fontäne
vom Marktplatz wirkt verlassen, grau und alt.
Aus Essen steigen Dünste, dergestalt
türmt der Polarwind seine Silbermähne.

Wo Sommerlinden dereinst Liebe schworen,
versprach kein Glück der immergrüne Klee.
Vor Tagesanbruch sind sie eingefroren.

Bedeckt von einem Überzug aus Schnee
verschwindet auch das rettende Geleis.
Die Welt um mich herum - erstarrt zu Eis.

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