Dienstag, 2. Mai 2017

Himmelblau

Eichhörnchen starrte in den Morgenhimmel. Wie jeden Tag suchte Eichhörnchen nach dem Lieblingswort des Tages, das ihm Freude machte, Angst in Wunder zu wandeln vermochte und mit dem es lachen und herumtollen konnte.
Da war es auch schon. Ganz oben zwischen den Wipfeln der Fichten lugte es hervor, das Lieblingswort: Himmelblau. Eichhörnchen klatschte vor Freude in die Pfötchen. Ein himmelblaues Tageslieblingswort.
Für jeden Bauchredner eine Herausforderung, aber für Eichhörnchen das wunderschönste Wort der Welt für einen Tag. Genüsslich formte Eichhörnchen jeden einzelnen Buchstaben: es hauchte ein h, lächelte ein i, genoss gleich zweimal das m und ploppte nach kurzem Anlauf über el schließlich das blau mit geschlossenen Augen zwischen den beiden Schneidezähnchen mittels seiner Zunge heraus - bllllau.
Bald schon sprang es über den sandigen Waldweg hin zu den Moosbuckeln. Dort stand seine Lieblingstanne, der es sofort erzählen musste, welches heute sein Lieblingswort sei.
„Himmelblau“, rief Eichhörnchen, kaum dass es den Wald erreicht hatte. Die Tanne nickte wie alle Tage und breitete ihre Äste, damit Eichhörnchen leichter hinaufklettern konnte.
Egal, was heute geschehen mochte, dachte Eichhörnchen, ihm könne nichts etwas anhaben. Regnet es, dann sage ich einfach himmelblau und der Regen wird mir Lieder singen. Trampeln belehrend Naturbesessene durch den Wald, sage ich einfach himmelblau und tanze solange vor ihren Augen über den Waldweg, bis sie ganz stille geworden weiterwandern. Ich glaube, Eichhörnchen war heute das glücklichste aller Eichhörnchen.
Während Eichhörnchen nun dort oben in der Tanne saß und sein Lieblingswort ein ums andere Mal vor sich hersagte, schraubte sich eine fette Hummel zwischen den Ästen hindurch nach oben. Sie war schon seit Sonnenaufgang unterwegs auf der Suche nach Essbarem und hatte bislang nichts finden können. Sie fühlte sich völlig zerbrummt und beinahe knurrte sie vor Ärger lauter als ihr Magen. Erschöpft landete Hummel auf einem Ast, nahe dem, auf dem Eichhörnchen saß. Das hatte vor lauter Entzückung über sein neues Lieblingswort nichts von Hummels Ankunft mitbekommen. Wie in Trance flüsterte es sein „Himmelblau“ vor sich hin und kicherte leise.
Zur Hälfte noch mit ihrem Ärger über das unerreichbare Frühstück beschäftigt, hörte Hummel mit der anderen Hälfte jemanden im Geäst mit sich selbst reden.
Aus den Augenwinkeln entdeckte sie Eichhörnchen, wie es kichernd vor sich hinplapperte. Hummel vernahm wie auf einer Perlenschnur aufgereiht immer dieselben Worte. Wieder und wieder. Ob Eichhörnchen sich lustig über sie machte? Hummel krauste die Stirn und vermeinte den Sinn der Worte auch mit einem halben Ohr zu verstehen. „Hummel-Sau, Hummel-Sau“.
Das war zu viel! So etwas sagte niemand zu ihr! Erbost setzte Hummel zum Anflug an und stieß sich mit vollem Körpereinsatz vom Ast ab.

Hummel brummelte, knurrte und verharrte einen lausig langen Augenblick vor den neugierig dreinschauenden Blicken Eichhörnchens. Ihre Flügel rotierten wie die eines Propellers. Ha, dachte sie, doofe Naturbesessene glauben, ich könne gar nicht fliegen, weil ich zu schwer sei, aber denen werde ichs zeigen! Dem Eichhörnchen werde ichs auch zeigen! Der ganzen Welt werde ichs zeigen! Da! Eichhörnchen sagte schon wieder „Hummel-Sau“!
Es reichte. Als Hummel glaubte, Eichhörnchen sei genug verängstigt, stieß sie zu. Genau auf die Mitte, Eichhörnchens Nasenspitze. Bumm!
Eichhörnchen nieste vor Schreck. Hummel kurbelte mit Kopfweh im Sturzflug zurück auf den Waldboden.
Was war nur in diese Hummel gefahren? War die etwa blind? Eichhörnchen starrte dem abstürzenden Ding verwundert hinterher. Hoffentlich hat sie sich nicht verletzt, dachte es weiter, und stammelte dabei einige Male sein „Himmelblau“. Das beruhigte.
Als es den Stamm der alten Kiefer hinabgeklettert war, sah es sich um. Zwischen  zweieinhalb Laubblättern, die von der Eiche in einigen Metern Entfernung letzten Herbst gefallen waren und die der Wind unter die Kiefer zum Ausruhen geweht hatte, entdeckte es Hummel.
„Hummel!“, rief Eichhörnchen, „um Hummels Willen, Hummel! Hast du dir wehgetan?“
Hummel hob den Kopf, deutete auf eine dicke Beule an der Stirn und flüsterte angestrengt: „Nein. Ich sammle darin nur Erfahrungen.“
Eichhörnchen nahm zwei der zweieinhalb Blätter und deckte Hummel damit zu. „Ruh dich ein wenig aus, Hummel“, flüsterte es besorgt. Und weil unter den Blättern Frühlingsblüten zum Vorschein gekommen waren, hielt es Hummel die Trichterblüten an den Rüssel, damit sie sich stärke.
Hummel staunte nicht schlecht. Dieses unverschämte Eichhörnchen, das eben noch Schmählaute gegen sie ausgestoßen hatte, brachte ihr das, wonach sie seit Stunden gesucht hatte?
Dankbar nahm sie die Gabe an, denn der Hunger war inzwischen unerträglich geworden. Eichhörnchen freute sich und berichtete Hummel nun von seinem Lieblingswort, vergaß auch nicht, es beständig zu wiederholen. Hummel schämte sich ein bisschen, aber es dauerte nicht lange und sie tollten gemeinsam durch den Wald.
Am Abend fragte Eichhörnchen Hummel: „Freunde?“
Hummel überlegte nicht lange. „Klar!“ lachte sie und brummelte auf dem Heimweg leise vor sich hin: „Himm- mmel-blllau … him- mmmel- blllau“

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